Inhaltsverzeichnis
Hochmut kommt vor dem Fall. Ein abgedroschenes Sprichwort. Aber eines, das auf Perus Präsidenten Pedro Castillo passt. Wobei: Ex-Präsident ist nun seine korrekte Anrede. From hero to zero – und das in nur wenigen Stunden. Nun ist er des Amtes enthoben und wurde von Sicherheitsbehörden festgenommen. Wie konnte es so weit kommen?
Prolog
Peru ist seit Jahren politisch ein unruhiges Land. Pedro Castillo, der ehemalige Lehrer aus einem verarmten Bezirk hoch in den Anden und politischer Neuling der linken Mitte, betritt das politische Schlachtfeld Perus im Jahr 2021, als er die Stichwahlen im Juni mit nur 44.000 Stimmen gewinnt. Das südamerikanische Land hat damit seinen sechsten Präsidenten in sechs Jahren.
Von Anfang an scheint Castillos Präsidentschaft nur von kurzer Dauer zu sein, sagt Flavia Freidenberg, Politikwissenschaftlerin an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, der Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Castillo hat nur wenig Unterstützung, keine politische Partei. Wegen verschiedener Vorwürfe und Meinungsverschiedenheiten räumen immer wieder wichtige Minister ihre Posten.
"Er hat das Land nicht geeint", bilanziert Eric Farnsworth, Vizepräsident des Council of the Americas der AP. "Er hatte kaum ein Mandat und hat daher keine Politik betrieben, die leicht als zum Wohle der Mehrheit des Volkes zu erkennen war", so Farnsworth. "Stattdessen wurde er in Intrigen, Korruption und Kämpfe mit dem Kongress verwickelt."
Gegen den 53-Jährigen laufen eine ganze Reihe von Ermittlungsverfahren wegen Korruptions- und Plagiatsvorwürfen.
Im Dezember vergangenen Jahres wird der erste Versuch unternommen, Castillo des Amtes zu entheben. Um den Präsidenten abzusetzen, müssen zwei Drittel der 130 Abgeordneten dafür stimmen. Doch nur 46 stimmen dafür.
Im März dieses Jahres dann Versuch Nummer zwei: Der Kongress versucht, Castillo wegen "permanenter moralischer Unfähigkeit" anzuklagen. Der Versuch scheitert erneut, diesmal mit nur 55 Ja-Stimmen.
Akt eins: Auflösung des Parlaments
Am Mittwoch bereitet sich Peru auf eine dritte Abstimmung über ein Amtsenthebungsverfahren vor. Vielleicht befürchtet Castillo, dass es dieses Mal genug Stimmen gibt, um ihn zu entmachten.
In der Nacht sagt der Präsident in einer ungewöhnlichen Ansprache im staatlichen Fernsehen, dass ein bestimmter Teil des Kongresses es auf ihn abgesehen habe und dass er für Fehler bezahle, die er aufgrund seiner Unerfahrenheit gemacht habe.

Dann, nur wenige Stunden später am Vormittag, wendet sich Castillo im Staatsfernsehen erneut an die Nation und kündigt die Auflösung des Kongresses an. Nach seinem Willen sollen Parlamentswahlen abgehalten und die Verfassung neu geschrieben werden.
Er selbst wolle eine Notstandsregierung einsetzen und per Dekret regieren. "Der Kongress hat den Rechtsstaat, die Demokratie und das Gleichgewicht zwischen den Staatsgewalten zerstört", sagt Castillo. Zudem verkündet er eine landesweite nächtliche Ausgangssperre.
Akt zwei: Amtsenthebung
Politiker aus dem Regierungslager und der Opposition werten Castillos Schritt als Staatsstreich. Die Polizei und die Streitkräfte warnen ihn, dass der von ihm eingeschlagene Weg verfassungswidrig sei. Der Präsident hat sich offenbar verspekuliert.
Zwar ist der Kongress, der als durch und durch korrupt gilt, laut Umfragen noch deutlich unbeliebter als die Regierung. Doch mit seiner Kraftprobe geht der Staatschef zu weit: Zahlreiche Kabinettsmitglieder wenden sich von ihm ab, allen voran Vizepräsidentin Dina Boluarte. "Ich lehne die Entscheidung von Pedro Castillo ab, durch die Auflösung des Kongresses den Zusammenbruch der verfassungsmäßigen Ordnung herbeizuführen. Das ist ein Staatsstreich, der die politische und institutionelle Krise verschärft, die die peruanische Gesellschaft unter strikter Einhaltung der Gesetze überwinden muss", schreibt sie auf Twitter.
Im Reich des Regenbogens: Diesen Berg bekommt kaum ein Mensch zu sehen

Während es von allen Seiten Kritik hagelt, versammeln sich die Abgeordneten früher als geplant, um über den Amtsenthebungsantrag zu debattieren.
Mit großer Mehrheit enthebt der Kongress Castillo dann wegen "dauerhafter moralischer Ungeeignetheit" des Amtes. 101 Parlamentarier stimmen schließlich für die Amtsenthebung, sechs dagegen und zehn enthalten sich. Das eindeutige Votum hat sich Castillo mit seiner Machtprobe wohl selbst zuzuschreiben.
Akt drei: Perus neue Präsidentin
Nach der Absetzung Castillos durch das Parlament wird Boluarte um 15 Uhr Ortszeit als neue Präsidentin vereidigt. "Ich bin mir der enormen Verantwortung bewusst, die auf mich zukommt, und rufe zur Einheit aller Peruaner auf", sagt die 60-jährige Juristin in ihrer Antrittsrede im Kongress. "Ich rufe zu einem breit angelegten Dialog zwischen allen politischen Kräften auf." Boluarte ist die erste Frau an der Staatspitze in der Geschichte des südamerikanischen Landes.

Akt vier: Festnahme Castillos
Castillo verlässt nach dem Votum der Abgeordneten den Präsidentenpalast in Begleitung eines Leibwächters und begibt sich zum Polizeipräsidium in Lima. Er wird schließlich im Zentrum der Hauptstadt festgesetzt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm einen Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung des Landes vor. Gegen ihn werde wegen Rebellion ermittelt, teilt die Generalstaatsanwaltschaft mit. "Er ist festgenommen", sagt die für Ermittlungen zu Regierungskorruption zuständige Staatsanwältin Marita Barreto am Abend nach einem Tag sich überschlagender Ereignisse.
Epilog
Es kommt zu einigen kleineren Straßenprotesten, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. In Lima bejubeln Dutzende Menschen, die peruanische Flaggen schwenken, den Sturz Castillos, während anderswo in der Hauptstadt und in der Stadt Arequipa seine Anhänger demonstrieren. Vereinzelt gibt es Zusammenstöße mit der Polizei. Einer trägt ein Schild mit der Aufschrift: "Pedro, das Volk ist mit dir."

Die Verfassung Perus ermöglicht ein Amtsenthebungsverfahren gegen einen Präsidenten, das auf der Annahme eines politischen und nicht eines rechtlichen Fehlverhaltens beruht. Dadurch sind Amtsenthebungen in dem Land inzwischen fast die Regel. Castillo ist der dritte Präsident seit 2018, der aufgrund der Verfassungsklausel der "moralischen Unfähigkeit" abgesetzt wurde.
Der linke Politiker hat stets alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurückgewiesen. Zum von ihm versuchten Mittel der Parlamentsauflösung hatte zuletzt der damalige Präsident Alberto Fujimori vor mehr als 30 Jahren im April 1992 gegriffen. Fujimori wurde unter anderem deshalb oft als Diktator bezeichnet.

"Castillos Entscheidung, den Kongress aufzulösen (…) ist ein Beweis für die Schwäche des Präsidenten und seine mangelnde politische Strategie", erläutert die peruanische Politikwissenschaftlerin Andrea Moncada im Fachmagazin "Americas Quarterly". "Es ist klar, dass Castillo glaubte, auf diese Weise ein Amtsenthebungsverfahren vermeiden zu können, aber es war eine impulsive, schlecht durchdachte Entscheidung."
Ihre Kollegin Flavia Freidenberg bezeichnet die Vereidigung Boluartes als hoffnungsvolles Zeichen. "Es ist eine einmalige Gelegenheit, den Peruanern die Fähigkeiten der Frauen in einem Land zu zeigen, das chauvinistisch, frauenfeindlich und diskriminierend ist und in dem Frauen so viele Schwierigkeiten hatten, Zugang zur Regierung zu finden."
Aber Boluarte tritt ihr Amt auch mit einem schwachen Mandat und ohne Partei an.
"Sie muss damit beginnen, so zu regieren, dass sie auf die politischen Gegner zugeht und gleichzeitig versucht, eine Koalition von Unterstützern zu vereinen", sagt Farnsworth vom Council of the Americas. "Um eine funktionierende Regierung zu haben, braucht man eine Koalition, die groß genug ist, um die Politik voranzutreiben, und Abgeordnete, die hinter einem stehen."
In den ersten Tagen ihrer Amtszeit wird sich Boluarte aber mit ihrem gestürzten Vorgänger befassen müssen. Ob man Castillo vor Gericht stellen soll oder ihm erlaubt, in einem anderen Land Asyl zu suchen – diese Frage liegt nun in den Händen einer Frau.
Quellen: Nachrichtenagenturen DPA, AFP, Associated Press, Reuters, "Sage Journals"